Dienstag, Oktober 22, 2024

Sonderkündigungsrechte im deutschen Arbeitsrecht – Ein Überblick

Im deutschen Arbeitsrecht bestehen neben den allgemeinen Kündigungsregelungen besondere Schutzmechanismen für bestimmte Personengruppen und Situationen, die sogenannten Sonderkündigungsrechte. Diese Schutzregelungen sollen sicherstellen, dass Arbeitnehmer in besonderen Lebens- oder Arbeitsverhältnissen nicht ohne weiteres gekündigt werden können. In diesem Beitrag geben wir einen detaillierten Überblick über die wichtigsten Sonderkündigungsrechte, ihre gesetzlichen Grundlagen und einschlägige Rechtsprechung.

1. Kündigungsschutz von Schwangeren und Müttern

Gesetzliche Grundlage: Mutterschutzgesetz (MuSchG)

Nach § 17 Mutterschutzgesetz (MuSchG) besteht für schwangere Frauen und Mütter während der Schutzfristen (sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung, bei Früh- und Mehrlingsgeburten zwölf Wochen nach der Entbindung) ein absolutes Kündigungsverbot. Der Schutz beginnt mit der Schwangerschaft und endet vier Monate nach der Geburt des Kindes. Dies gilt unabhängig davon, ob der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung von der Schwangerschaft wusste. Allerdings muss die Arbeitnehmerin die Schwangerschaft innerhalb von zwei Wochen nach der Kündigung mitteilen, damit der Kündigungsschutz greift.

Ausnahmen vom Kündigungsverbot können nur mit Zustimmung der zuständigen Aufsichtsbehörde erfolgen. Solche Ausnahmen sind jedoch nur in sehr seltenen Fällen möglich, etwa bei einer Betriebsstilllegung.

Einschlägige Rechtsprechung: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem Urteil vom 27. Februar 2020 (Az. 2 AZR 498/19) klargestellt, dass das Kündigungsverbot auch dann greift, wenn der Arbeitgeber erst nach der Kündigung von der Schwangerschaft erfährt. Eine nachträgliche Information reicht aus, um die Kündigung unwirksam zu machen.

2. Kündigungsschutz von Schwerbehinderten

Gesetzliche Grundlage: Sozialgesetzbuch IX (SGB IX)

Schwerbehinderte Menschen genießen einen besonderen Kündigungsschutz nach §§ 168 ff. Sozialgesetzbuch IX (SGB IX). Vor der Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ist die Zustimmung des Integrationsamts erforderlich. Dies gilt sowohl für ordentliche als auch für außerordentliche Kündigungen. Ohne diese Zustimmung ist die Kündigung unwirksam.

Der Kündigungsschutz gilt für Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50. Auch Menschen mit einem Grad der Behinderung von 30 oder 40 können unter besonderen Umständen gleichgestellt werden und von diesem Schutz profitieren.

Das Integrationsamt prüft, ob die Kündigung sozial gerechtfertigt und unvermeidbar ist. In der Praxis wird die Zustimmung in Fällen schwerwiegender betrieblicher Gründe, wie etwa einer Betriebsstilllegung, erteilt.

Einschlägige Rechtsprechung: In einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17. November 2021 (Az. 2 AZR 749/20) entschied das BAG, dass eine Kündigung ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamts unwirksam ist, selbst wenn der Arbeitgeber erst nach der Kündigung von der Schwerbehinderung erfährt. Die nachträgliche Zustimmung durch das Integrationsamt kann die Kündigung nicht heilen.

3. Kündigungsschutz von Betriebsratsmitgliedern

Gesetzliche Grundlage: Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

Betriebsratsmitglieder genießen nach § 15 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) und § 103 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) einen besonderen Kündigungsschutz. Während ihrer Amtszeit und für ein Jahr danach ist eine ordentliche Kündigung unzulässig. Eine außerordentliche Kündigung ist nur mit Zustimmung des Betriebsrats möglich. Verweigert der Betriebsrat seine Zustimmung, kann der Arbeitgeber diese durch das Arbeitsgericht ersetzen lassen.

Der Kündigungsschutz soll sicherstellen, dass Betriebsratsmitglieder ihre Aufgaben unabhängig und ohne Angst vor Kündigung wahrnehmen können.

Einschlägige Rechtsprechung: In einem Urteil vom 28. Juni 2018 (Az. 2 AZR 86/17) entschied das BAG, dass der besondere Kündigungsschutz für Betriebsratsmitglieder auch dann gilt, wenn der Arbeitnehmer seine Pflichten als Betriebsratsmitglied verletzt hat. Eine Kündigung ist nur möglich, wenn ein besonders schwerwiegender Pflichtverstoß vorliegt und das Arbeitsgericht die Zustimmung zur Kündigung erteilt.

4. Kündigungsschutz während der Elternzeit

Gesetzliche Grundlage: Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG)

Arbeitnehmer, die in Elternzeit sind, genießen nach § 18 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) einen besonderen Kündigungsschutz. Das Kündigungsverbot beginnt, sobald der Arbeitnehmer die Elternzeit beantragt, frühestens jedoch acht Wochen vor dem Beginn der Elternzeit, und endet mit dem Ablauf der Elternzeit.

Auch hier kann eine Kündigung nur in Ausnahmefällen und mit Zustimmung der zuständigen Landesbehörde ausgesprochen werden. Ein solcher Ausnahmefall liegt beispielsweise vor, wenn der Betrieb vollständig stillgelegt wird.

Einschlägige Rechtsprechung: Das Bundesarbeitsgericht hat in einem Urteil vom 27. Januar 2021 (Az. 7 AZR 676/19) entschieden, dass ein Kündigungsverbot auch dann besteht, wenn der Arbeitnehmer nach der Geburt des Kindes keine Elternzeit nimmt, aber die Schutzfrist nach dem Mutterschutzgesetz noch andauert.

5. Sonderkündigungsschutz für Pflegepersonen

Gesetzliche Grundlage: Pflegezeitgesetz (PflegeZG)

Arbeitnehmer, die nach § 3 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) Pflegezeit in Anspruch nehmen, um einen nahen Angehörigen zu pflegen, stehen unter besonderem Kündigungsschutz. Der Schutz besteht ab dem Zeitpunkt der Ankündigung der Pflegezeit und für die gesamte Dauer der Pflegezeit. Während dieser Zeit darf der Arbeitgeber nur in Ausnahmefällen kündigen, wenn besondere betriebliche Gründe dies erfordern und die zuständige Behörde der Kündigung zustimmt.

Einschlägige Rechtsprechung: Das Bundesarbeitsgericht entschied am 15. November 2018 (Az. 6 AZR 548/17), dass der Kündigungsschutz auch dann gilt, wenn der Arbeitnehmer die Pflegezeit nur für einen kurzen Zeitraum in Anspruch nimmt. Der Arbeitgeber muss in jedem Fall die Zustimmung der Behörde einholen, bevor eine Kündigung ausgesprochen wird.

6. Kündigungsschutz während der Freistellung nach dem Pflegeunterstützungsgesetz

Gesetzliche Grundlage: Familienpflegezeitgesetz (FPfZG)

Nach dem Familienpflegezeitgesetz (FPfZG) steht Arbeitnehmern, die eine Freistellung zur Pflege eines Angehörigen in Anspruch nehmen, ein besonderer Kündigungsschutz zu. Der Schutz gilt ab dem Zeitpunkt der Beantragung der Freistellung und während der gesamten Dauer der Pflegezeit.

Einschlägige Rechtsprechung: In einem Urteil vom 14. März 2019 (Az. 10 AZR 231/18) entschied das Bundesarbeitsgericht, dass der Kündigungsschutz nach dem FPfZG auch für Arbeitnehmer gilt, die nur eine kurze Freistellung zur Pflege eines nahen Angehörigen beantragen. Eine Kündigung ist nur mit Zustimmung der Behörde möglich.

Fazit

Die verschiedenen Sonderkündigungsrechte im Arbeitsrecht bieten Arbeitnehmern in besonderen Lebenslagen oder bei besonderen Aufgaben umfassenden Schutz vor einer Kündigung. Die gesetzlichen Grundlagen wie das Mutterschutzgesetz, das Sozialgesetzbuch IX, das Betriebsverfassungsgesetz sowie das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz schaffen dabei klare Regelungen, um Arbeitnehmer vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu schützen. Allerdings sind die Sonderkündigungsrechte oft mit komplexen Anforderungen verbunden, insbesondere wenn Ausnahmen vom Kündigungsschutz gemacht werden sollen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollten sich daher in diesen Fällen gründlich informieren und gegebenenfalls rechtlichen Rat einholen.

Jede dieser Sonderregelungen ist durch umfangreiche Rechtsprechung konkretisiert worden, sodass ein Blick in die aktuellen Entscheidungen der Arbeitsgerichte hilfreich sein kann, um den jeweiligen Kündigungsschutz in der Praxis besser zu verstehen.

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