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Die Fluchtwege aus der Säumnis in der Zivilprozessordnung – Strategien und Risiken

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Die Zivilprozessordnung (ZPO) bietet mehrere strategische Optionen, um eine drohende Präklusion von Angriffs- und Verteidigungsmitteln zu umgehen. Während in der Theorie die Flucht in die Säumnis oft als gangbarer Weg dargestellt wird, zeigt die Praxis, dass alternative Strategien wie die Klageerweiterung oder Widerklage weitaus effektiver und risikoärmer sind. In diesem Artikel beleuchten wir die unterschiedlichen Fluchtwege aus der Säumnis, ihre rechtlichen Grundlagen und die Vor- und Nachteile aus anwaltlicher Perspektive.

1. Flucht in die Säumnis: Eine verbreitete, aber riskante Strategie

Die Flucht in die Säumnis, bei der eine Partei keinen Antrag stellt und ein Versäumnisurteil gegen sich ergehen lässt, um im Rahmen der Einspruchsbegründung nach § 340 ZPO verspätete Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen, gehört zu den bekanntesten Ansätzen. Allerdings birgt diese Methode erhebliche Risiken, die häufig unterschätzt werden.

Vorteile der Flucht in die Säumnis: Sie ermöglicht eine erneute Befassung des Gerichts mit der Sache und stellt geringe Anforderungen an die anwaltliche Kreativität im Termin.

Nachteile der Flucht in die Säumnis: Das Kostenrisiko ist hoch, da die säumige Partei gemäß § 344 ZPO zwingend die Verfahrenskosten trägt, einschließlich einer möglichen Verzögerungsgebühr gemäß § 38 GKG. Ein Versäumnisurteil ist gemäß § 708 Nr. 2 ZPO vorläufig vollstreckbar, sodass die Partei ohne Sicherheitsleistung die Vollstreckung abwenden muss (§ 719 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Zudem ist die Flucht in die Säumnis nur einmal möglich (§ 345 ZPO). Besonders problematisch ist, dass das Gericht nicht verpflichtet ist, den Einspruchstermin so weit zu verschieben, dass komplexe Beweisaufnahmen wie Sachverständigengutachten eingeholt werden können. Nachträgliche Vergleiche oder Klagerücknahmen reduzieren die Gerichtsgebühren nicht mehr.

Insgesamt erweist sich die Flucht in die Säumnis als wenig ratsam und nur in Ausnahmefällen sinnvoll.

2. Flucht in die Klageerweiterung oder Widerklage: Der sicherste Weg

Die Flucht in die Klageerweiterung oder Widerklage ist eine weitaus elegantere und effektivere Methode. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 23. April 1986 – VIII ZR 93/85) können Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht pauschal als verspätet zurückgewiesen werden, wenn sie für die Entscheidung über eine Klageerweiterung oder Widerklage erforderlich sind.

Vorteile der Klageerweiterung/Widerklage: Das Gericht muss die Angriffs- und Verteidigungsmittel berücksichtigen, da es die Klageerweiterung oder Widerklage nicht als verspätet zurückweisen darf. Es ergeht kein vorläufig vollstreckbares Urteil. Bei gleichbleibender Gebührenstufe entstehen keine zusätzlichen Kosten. Diese Strategie ist grundsätzlich mehrfach möglich, solange kein Rechtsmissbrauch vorliegt.

Nachteile der Klageerweiterung/Widerklage: Sie erfordert höhere Kreativität und Flexibilität in der Verhandlung.

Die Flucht in die Klageerweiterung oder Widerklage vermeidet die zentralen Nachteile der Säumnis und ist daher der sicherste Fluchtweg.

3. Flucht in den Befangenheitsantrag: Ein unsicherer Pfad

Ein Befangenheitsantrag gemäß § 42 ZPO kann ebenfalls genutzt werden, um einen neuen Verhandlungstermin zu erzwingen. Allerdings ist dieser Ansatz stark eingeschränkt.

Grenzen des Befangenheitsantrags: Nach § 47 Abs. 2 ZPO kann das Gericht trotz eines anhängigen Ablehnungsgesuchs weiterverhandeln. Ein rechtsmissbräuchliches Ablehnungsgesuch ist unzulässig und wird regelmäßig abgelehnt. Das Gericht ist nicht verpflichtet, eine aufwendige Beweisaufnahme zu ermöglichen.

Der Befangenheitsantrag ist daher nur in seltenen Konstellationen ein geeigneter Fluchtweg.

4. Flucht in die Klagerücknahme: Eine Ultima Ratio

Die Klagerücknahme gemäß § 269 ZPO kommt nur infrage, wenn die Klage ohne Zustimmung des Beklagten zurückgenommen werden kann. Allerdings ist dies aufgrund der zwingenden Kostentragungspflicht des Klägers (§ 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO) in der Regel wirtschaftlich nachteilig.

Fazit: Klageerweiterung oder Widerklage als Königsweg

Während die Flucht in die Säumnis weit verbreitet ist, zeigt die Praxis, dass sie erhebliche Nachteile birgt. Die Klageerweiterung oder Widerklage bietet hingegen einen rechtlich sicheren und kosteneffizienten Fluchtweg, um drohende Präklusionen zu vermeiden. Anwälte sollten daher bevorzugt diesen Weg wählen, um die Interessen ihrer Mandanten effektiv zu wahren.

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